Hirntumoren sind mehr als nur gut- oder bösartig. Manche fallen durch Kopfschmerzen oder Sprachprobleme auf, andere rein zufällig. Sie genau zu klassifizieren, ist wichtig für eine erfolgreiche Therapie.

„Letztes Jahr ist viel passiert“, erzählt Markus B. Im Juli 2023 heiratete der heute 31-Jährige seine Freundin, im September wurden die beiden zum ersten Mal Eltern. Kurz darauf stürzte der junge Vater mit dem Fahrrad, fiel über den Lenker, brach sich das Schlüsselbein und musste operiert werden. Schließlich saß er im Oktober 2023 am Uniklinikum Erlangen Neurochirurg Prof. Dr. Oliver Schnell gegenüber und fragte: „Muss ich sterben?“ Weil durch den Schlüsselbeinbruch ein Nerv verletzt worden war, hatte Markus B. eine anhaltende Taubheit im Arm gespürt. Seine Neurologin hatte Auffälligkeiten bei der Nervenleitgeschwindigkeit festgestellt und ihn ans Uniklinikum Erlangen überwiesen. „Hier haben sie mein Schlüsselbein noch einmal operiert und sicherheitshalber auch ein CT und ein MRT von meinem Kopf gemacht, um auszuschließen, dass die Ausfallerscheinungen von dort kommen“, schildert der Patient. „Vor der Besprechung der Ergebnisse wurde ich gefragt, ob ich Angehörige dabeihabe. Ich sagte: Ja, meinen Bruder.“ Markus B. erinnert sich, wie Klinikdirektor Prof. Schnell ihm erklärte, dass da etwas in seinem Kopf sei, was da nicht hingehöre. Ein knapp vier Zentimeter großes Oligodendrogliom, ein Tumor in seinem linken Stirnlappen – gutartig zwar, aber mit der Gefahr, über kurz oder lang seine Sprache zu beeinträchtigen, andere neurologische Ausfälle zu erzeugen oder gar bösartig zu werden. Plötzlich stand eine Hirn-OP im Raum. Dabei hatte er doch nur einen Fahrradunfall gehabt. „Im Nachhinein bin ich aber froh, dass sie den Tumor zufällig entdeckt haben“, sagt Markus B. „Wer weiß, was in fünf Jahren gewesen wäre. Ich war sofort dafür, den Eingriff von Prof. Schnell machen zu lassen.“ Das Gliom war bereits bis an funktionelle Hirnareale herangewachsen. Um diese zu schützen, trug der Neurochirurg nicht zu viel Gewebe ab. Stattdessen sollen nun Bestrahlung und Chemotherapie die verbliebenen Spuren des Tumors beseitigen. Nach der OP fühlte sich Markus B. gut; nur hin und wieder sei er vielleicht ein bisschen vergesslicher als früher. „Ich bin superzufrieden, wie alles gelaufen ist, und froh, dass der Hirntumor nicht vererbt wird. Um unseren Sohn brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.“

Nicht einfach gut oder böse

Die Neuroonkologie, also die Diagnostik und Behandlung von Hirn- und Rückenmarkstumoren, ist der klinische und wissenschaftliche Schwerpunkt von Klinikdirektor Prof. Schnell. „Am Uniklinikum Erlangen operieren wir Tumoren im Gehirn, an der Hirnanhangdrüse und am Schädelknochen, aber auch Hirnmetastasen, die von einem anderen Organ ausgehen“, sagt er. Hirntumor ist nicht gleich Hirntumor, das ist dem Spezialisten wichtig zu betonen. So hätten etwa Meningeome – mehrheitlich gutartige Veränderungen, die aus den Hirnhäuten entstehen – oft eine gute Prognose, Glioblastome eine schlechte. „Allerdings verwende ich die Unterscheidung in gut- und bösartig nicht so gern, weil das immer relativ ist. Auch ein gutartiger Tumor, der innerhalb des Schädels wächst, kann lebensbedrohlich werden. Gutartig heißt erst einmal nur, dass er keine Metastasen erzeugt und nicht unkontrolliert in das umgebende Gewebe hineinwächst. Aber er fordert Raum. Eine Bauchdecke kann sich dehnen – ein Schädel nicht.“

Durch Neuro-Landschaften navigieren

Um Veränderungen im Gewebe zu beurteilen, können Neurochirurginnen und -chirurgen Ultraschall-, CT-, MRT- und PET-Bilder miteinander kombinieren. Wenn sie die Aufnahmen übereinanderlegen, sehen sie, wo der Tumor genau liegt, wie aggressiv er ist, wie schnell oder langsam er wächst und wo Proben genommen werden sollten. Auch bewegungs- und sprachrelevante Areale und Faserbahnen können sich die Ärztinnen und Ärzte in der OP-Planung vorab farbig kennzeichnen. So finden sie immer den kürzesten und sichersten Weg zum Tumor. Während eines Eingriffs blendet das OP-Team dann millimetergenaue Markierungen über dem Operationsfeld ein und kennzeichnet mit dieser Neuronavigation, wo die Schnittlinien verlaufen sollen. „Zusätzlich haben wir in Erlangen den Vorteil, dass wir MRT- und Ultraschallaufnahmen unmittelbar während eines Eingriffs erstellen können“, erläutert Prof. Schnell. „Wir erfahren also in Echtzeit, ob es noch Tumorreste gibt, die wir entfernen müssen.“ Mittels Neuromonitoring überwacht das OP-Team wichtige Nervenfunktionen. „Es gibt beispielsweise einen Sauger, mit dem wir den zerkleinerten Tumor herausholen. Das Gerät warnt uns per Audiosignal davor, weiter ins Gewebe vorzudringen, wenn direkt daneben ein Funktionsareal liegt. So schützen wir den Patienten vor Funktionseinschränkungen – etwa vor einem Sprachverlust oder einer Halbseitenlähmung“, beschreibt Prof. Schnell.

Hirntumoren leuchten rot-violett

Eine Methode, die der neue Klinikdirektor in Erlangen eingeführt hat, ist die 5-ALA-Fluoreszenz-Mikroskopie. Ein vor dem Eingriff getrunkenes Medikament reichert sich dabei in Krebszellen an und lässt sie unter dem OP-Mikroskop rot-violett leuchten. So sind sie besser sichtbar und von gesundem Gewebe gut zu unterscheiden. Manchmal wird auch ein Stück verdächtiges Hirngewebe entnommen, um es genauer zu untersuchen. Diese Histologie geschieht normalerweise in der Neuropathologie: Hier wird die Probe in Paraffin gebettet, mikrometerdünn geschnitten, auf einen gläsernen Objektträger aufgebracht, eingefärbt und unter dem Mikroskop beurteilt. Bis das Ergebnis dieses Schnellschnitts im OP ankommt, vergehen mindestens 20 Minuten. Die Alternative: „Mit einem Laser machen wir aus der Probe noch im OP eine digitale Histologie. Die Art, wie das Laserlicht mit den Molekülen im Gewebe interagiert, verrät nämlich etwas über dessen Zusammensetzung. Diese Methode dauert nur fünf Minuten“, sagt Prof. Schnell. „Studien haben gezeigt, dass beide Histologieverfahren – das klassische und das digitale – hohe Übereinstimmungen haben. Wir wollen die neue Variante deshalb intensiver diagnostisch nutzen.“

Absolute Ausnahmesituation

Hirntumoren werden überwiegend bei Erwachsenen entdeckt, doch es gibt auch immer wieder betroffene Kinder. „Das ist eine Ausnahmesituation für alle – für das Kind, die Eltern, aber auch für uns Ärzte und Ärztinnen“, so Oliver Schnell, der selbst zweifacher Vater ist. „Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn das eigene Kind erkrankt, und dann auch noch an einem Hirntumor. Bei solchen Eingriffen spürt man im ganzen Team eine ganz besondere Alarmbereitschaft und Sensibilität.“ Hirntumoren sind neben Leukämien die häufigste Krebsart bei Kindern. Am Uniklinikum Erlangen gibt es für sie eine eigene Tumorkonferenz mit Kinderspezialistinnen und -spezialisten. „Erfreulicherweise können wir bei Kindern einige Tumoren operativ heilen“, sagt Prof. Schnell. „Kinder haben außerdem ein unglaubliches Erholungspotenzial. Sie stecken Dinge anders weg als Erwachsene und können Funktionen teilweise neu erlernen.“

Bin ich noch ich selbst?

Für die meisten Menschen ist eine Operation am Kopf unvorstellbar. Häufig haben sie Angst, dass ein solcher Eingriff ihre Persönlichkeit verändert. Das ist aber laut Prof. Schnell sehr selten. „De facto ist es häufig andersherum“, klärt er auf. „Die Patientinnen und Patienten kommen eher aufgrund von Persönlichkeitsveränderungen zu uns.“ Er gibt ein Beispiel: Ein Kaninchenzüchter hatte sich immer liebevoll um seine Tiere gekümmert. Dann beobachtete seine Frau, dass er völlig die Motivation dafür verlor. Letztlich musste sie die Pflege der Kaninchen übernehmen. Bei ihrem Mann fand man einen großen Tumor hinter der Stirn, der ein Frontalhirnsyndrom mit Antriebslosigkeit und Desinteresse hervorrief. Als der Tumor entfernt war, kehrte die Persönlichkeit des Patienten zurück. Dass ein Hirntumor Beschwerden macht, ist häufig eine Frage der Zeit. „Es gibt immer ein gewisses OP-Risiko“, erklärt Oliver Schnell. „Aber wir sagen oft: Wenn wir nichts machen, wird der Tumor all das, was bei der OP theoretisch passieren könnte, definitiv verursachen. Mit einem Eingriff können wir es kontrollieren.“

Erkrankte durch die Therapie führen

Das Team der Erlanger Neurochirurgie möchte seine Patientinnen und Patienten ganzheitlich begleiten. „Wir beraten und lotsen sie von der Diagnostik und Therapie bis hin zur Nachsorge, sodass sie keine wichtigen Termine verpassen und immer wissen, was wann, wo und warum mit ihnen passiert“, erläutert Prof. Schnell. „Gerade bei Krebspatientinnen und -patienten ist es extrem wichtig, sie an die Hand zu nehmen und durch die Erkrankung zu führen. Wir übernehmen die Verantwortung dafür, dass bei uns niemand durchs Raster fällt.“

Text: Franziska Männel/Uniklinikum Erlangen; Fotos: Franziska Männel und Alessa Sailer/Uniklinikum Erlangen; zuerst erschienen in: Magazin „Gesundheit erlangen“, Frühling 2024